Die Philosophie hinter der Alexander-Technik

 

Die Philosophie hinter der Alexander-Technik

 

Adrian Mühlebach

 

 

 

Die Philosophie beschäftigt sich mit unserem Denken, mit den meist unbewussten Grundannahmen auf denen unser Denken und damit auch unser Sprechen basieren. Wenn wir über die Alexander-Technik sprechen, gehen wir von solchen Grundannahmen aus und benützen die damit verbundenen Begriffe und Denkmodelle. Auch Alexander tat dies in seinen Büchern, teilweise bewusst, zum Teil wohl auch unbewusst. Dieser Text geht der Frage nach der Philosophie hinter der Alexander-Technik nach.

 

 

 

Alexander und der Pragmatismus                 

 

William James (1842-1910) und John Dewey (1859-1952) zählten zu den wichtigsten Vertreter der philosophischen Strömung des Pragmatismus. Alexander bewunderte William James und war jahrelang mit John Dewey befreundet. Ist der Pragmatismus deshalb so etwas wie die „Hausphilosophie“ der Alexander-Technik? Eher nicht. Alexander wollte keine philosophischen Denksysteme verwenden, auch nicht jenes des Pragmatismus. Zitat: „…, möchte ich doch darauf hinweisen, dass ich durchgehend vermieden habe, Worte zu verwenden, die als Etikett für jene Ideen und „Systeme“ gebraucht werden, von deren grundlegender Unzuverlässigkeit ich überzeugt bin.“[1]

 

 

 

Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des Triumphes der Naturwissenschaften. Ihr Denken begann das Leben der Menschen fundamental zu verändern. Traditionelle Vorstellungen und Gewohnheiten wurden hinterfragt und durch naturwissenschaftlich fundierte Denkmodelle ersetzt. An die Stelle von tradiertem Wissen und gewohntem Verhalten trat neu der Erkenntnisgewinn durch das wissenschaftliche Experiment. Ein Prinzip, welches Dewey mit seinem Learning by Doing auch als reformpädagogischen Ansatz postulierte. Und welches Dewey auch als Erkenntnismethode bei Alexander zu schätzen wusste. Doch bei Alexander war dieser Erkenntnisweg weniger bewusst gewählt als vielmehr aus der Not seiner durch die Ärzte nicht heilbaren Stimmprobleme entstanden. Die Theoriebildung war bei ihm der praktischen Erfahrung nachgelagert. Er musste im Nachhinein Worte finden, um seine Methode zu beschreiben und vor allem – um in der Öffentlichkeit dafür zu werben. So entstanden zuerst kurze Pamphlete und später sein Bücher. Er tat dies aber nie als Vertreter einer philosophischen Schule, er bediente sich der Begrifflichkeit verschiedenster Denkansätze.

 

Alexander war kein Theoretiker sondern primär ein Praktiker. Er hat sich nicht wirklich vertieft mit wissenschaftlichem Denken auseinandergesetzt. Margaret Naumburg[2] 1957 über Alexander: „I never noticed any interest in Alexander… about anyone else’s books or ideas”[3]. Sein Umgang mit philosophischen Begriffen war daher vielfach sehr eigentümlich – er benutzte sie ohne den damit verbundenen Kontext mitzuverwenden. Folgendes Zitat zeigt diesen Umgang mit philosophischen Begriffen sehr schön auf: „Ich ziehe es vor, den psycho-physischen Organismus schlicht „das Selbst“ zu nennen, das „funktioniert“ und „reagiert“. Meine Vorstellung des menschlichen Organismus oder des Selbst ist somit recht einfach, kann aber von Lesern ihrer vorgefassten Meinung wegen unnötig verkompliziert werden.“[4]

 

 

 

Verschiedene Denkmodelle des Pragmatismus, so z.B. das Selbst-Konzept oder die Emotionstheorie von William James, wären für eine Theorie der Alexander-Technik durchaus interessant gewesen. Alexander hat sie aber nicht aufgegriffen. Und die Freundschaft mit John Dewey endete, als sich Alexander weigerte dessen Angebot für eine von der Rockefeller Stiftung finanzierte, wissenschaftliche Erforschung seiner Methode anzunehmen. Gegenüber Walter Carrington meinte er später zu Deweys Angebot abfällig: Es sei „ by academic gentlemen with big names but small brains and psycho-physical make-ups“ gemacht worden.[5]

 

 

 

Das alles macht es nicht einfach über die Philosophie hinter Alexanders Methode zu schreiben. Und doch gibt es einige philosophische Themen, die in seinen Büchern sehr präsent sind. Auf zwei davon möchte ich hier näher eingehen: das Selbst und Körper und Geist.

 

 

 

 

 

Das Selbst

 

Alexander setzt, wie das Zitat in der Einleitung zeigt, das Selbst mit dem psychophysischen Organismus gleich. Daneben verwendet er gleichbedeutend auch die Begriffe psychophysische Einheit, psychophysischer Mechanismus oder auch nur Organismus. Aus philosophischer und psychologischer Sicht wäre es interessant zu wissen, wie er sich das Verhältnis vom Verstandes-Ich zum Selbst vorgestellt hat. Liest man seine Texte, so erhält man den Eindruck das Verstandes-Ich stehe ausserhalb des Selbst und könne es, wie Alexander es nennt, gebrauchen. Aber wie kann etwas ausserhalb stehen, dass selber Teil des Ganzen ist. Und wenn es selber Teil des Ganzen ist, wie soll man sich das Zusammenwirken mit den anderen Teilen vorstellen?

 

 

 

Schaut man sich in der Geistesgeschichte etwas um, so findet man verschiedene Verwendungen des Begriffes Selbst. William James etwa unterschied das erkennende Selbst, er bezeichnete es als das Ich oder Bewusstseinsstrom, vom erkannten Selbst, der reflektierbaren Identität. In der Gestalttherapie ist das Selbst der individuelle Mensch in seinem Lebensumfeld, es ist wandelbar, in einem ständigen Prozess. Bei C.G. Jung war das Selbst das Ziel der Individuation, der Selbstverwirklichung. Im Hinduismus schliesslich ist das Selbst (Atman) die ewige, unzerstörbare, innere Gestalt jedes Wesens. Und welches Selbst-Konzept würde sich für die heutige Alexander-Technik-Praxis eignen? Alle oben erwähnten Verwendungen des Begriffs sprechen interessante Aspekte an.

 

 

 

Das bewusst denkende, fühlende, handelnde Ich ist ein Teil des umfassenden Selbst und steht zu diesem in einer Wechselbeziehung. Unser Ich ist nicht unabhängig von unserem Körper, unserer Lebensgeschichte und unserer Umwelt. Es basiert auf diesen Elementen und wirkt gleichzeitig auf diese ein. Es ist Teil eines sich selbstorganisierenden Systems. Damit sind wir schon nahe am Selbstbegriff der Gestalttherapie, der das Eingebundensein in ein soziales und ökologisches Netz und den zeitlichen Wandlungsprozesses betont.

 

Das Selbst als Ziel der Individuation weist auf das Prozesshafte der Alexander-Technik hin. Auf einen in der Gegenwart erfahrenen Zustand und auf eine gewünschte Veränderung in Richtung eines in der Zukunft liegenden Ziels. Das kann der Wunsch nach einem schmerzfreien Rücken, einer natürlich aufgerichtete Körperhaltung, besserer Stressresistenz, grösserer Leistungsfähigkeit usw. sein. Oder das Ziel kann, eher im Sinne Jungs, ein Weg sein, den in uns liegenden Wesenskern zur Entfaltung zu bringen. Damit wären wir dann nahe beim hinduistischen Konzept des Atman.

 

 

 

Dieser kleine geistesgeschichtliche Ausflug zeigt auf, dass der Begriff Selbst für die Praxis der Alexander-Technik mehr als nur die Einheit von Körper und Geist bedeuten könnte. Eine solche Ausweitung der Begriffsbedeutung würde eine Bereicherung für das Verständnis unserer Arbeit darstellen.

 

 

 

 

 

 

 

Körper und Geist

 

Dieses Thema beschäftigt die abendländische Philosophie seit der griechischen Antike. Wie lässt sich das Zusammenwirken der immateriellen, geistigen und der materiellen, körperlichen Welt erklären? Bei Platon galt die geistige Welt, die Welt der Ideen, als die wirklichere, die materielle hingegen nur als ihr Schatten. Diese Höhergewichtung des Geistigen war auch in der christlichen Philosophie bis zur Aufklärung dominant. Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften wurde geglaubtes Wissen in Frage gestellt. Die sinnliche Erfahrbarkeit bildete neu die Basis der Erkenntnis. Dadurch kippte das Verhältnis von Körper und Geist, der Materialismus war geboren. Nach materialistischer Vorstellung geht nicht mehr die Materie aus dem Geist hervor, sondern der Geist aus der Materie. Der deutsche Physiologe, Psychologe und Philosoph Wilhelm Wundt (1832-1920), der Begründer der experimentellen Psychologie[6], begann mit naturwissenschaftlichen Methoden die Gesetzmässigkeiten zwischen sensorischen Reizen und mentalen Zuständen zu erforschen. Aus diesem Forschungsansatz ging später der Behaviorismus hervor, welcher bis in die 1970er Jahre an den Universitäten die vorherrschende psychologische Strömung war.

 

 

 

William James, der auf einer Deutschlandreise die Philosophie des deutschen Idealismus[7], wie auch die experimentelle Psychologie kennengelernt hatte, entwickelte seinen eigenen Denkansatz zum Verhältnis von Körper und Geist. Er sprach vom Bewusstseinsstrom, da für ihn das Mentale weniger ein Zustand als vielmehr ein fortlaufender Prozess war. Das Mentale oder eben Geistige, und damit meinte er das Wahrnehmen, Memorieren, Vorstellen, Urteilen, Fühlen usw., hatte für ihn eine Funktion. Es dient der Anpassung des individuellen Organismus an seine Umwelt und es dient der Spezies Mensch sich in der Evolution weiter zu entwickeln. Eine Idee, die schon Darwin so formuliert hatte.

 

 

 

In diesem geistesgeschichtlichen Kontext stand Alexander, als er sein erstes Buch Man’s Supreme Inheritance schrieb. Und er fügte, ganz unbescheiden, seine Methode gleich in den Prozess der Evolution ein, indem sie als die Lösung für die Anpassungsschwierigkeiten des Menschen an das technisch-industrielle Zeitalter vorstellte. Sein Verständnis des Zusammenspiels von Körper und Geist war jedoch sehr hölzern[8]. Er verzichtete darauf differenzierte philosophische Überlegungen, wie jene von James, in seine Theorie zu integrieren. Ich möchte dies am Beispiel von James Emotionstheorie aufzeigen.

 

 

 

 

 

Emotionen als Verbindungsglied zwischen Körper und Geist

 

James gilt zusammen mit dem dänischen Physiologen Carl Lange als Begründer der Emotionstheorie. Seine 1884 formulierte These lässt sich kurz zusammenfassen: Unser Körper reagiert auf emotionale Reize und wir empfinden diese körperlichen Veränderungen als Emotionen. Wir sind traurig, weil wir weinen, wir sind ängstlich, weil wir zittern. Mit dieser Idee legte er den Grundstein für die Entwicklung aller folgenden Emotionstheorien. In den 1920er und 30er Jahren betonten Canon und Bard die Bedeutung des Gehirns, 1946 Schachter und Singer jene der Kognition für die Entstehung der Emotionen. Der amerikanische Neurowissenschaftler Joseph LeDoux vereinigte diese Ideen 1989 in seinem Erklärungsmodell. Demzufolge werden emotionale Reize auf zwei unterschiedlichen Wegen im Gehirn verarbeitet.  Auf dem kurzen, schnellen Weg aktiviert das Gehirn direkt, ohne unser bewusstes Entscheiden, eine emotionale Reaktion. Beim langsameren Weg erfolgt zuerst eine kognitive Verarbeitung der Situation, bevor eine emotionale Reaktion aktiviert wird. Der Wanderer entdeckt auf dem Weg eine Schlange und schreckt sofort zurück (schnelle Reaktion). Erst beim genaueren Betrachten der Schlange merkt er, dass es lediglich ein Stück trockenes Holz ist und er gefahrlos daran vorbeigehen kann (langsame Reaktion).

 

 

 

Liest man Alexanders 1932 veröffentlichten Text über den Stotterer, so wird ein Mensch beschrieben, der nur aus einem Körper und seinem Denken besteht beschrieben. Dass bei einem Stotterer auch Emotionen wie Scham oder Angst im Spiel sein könnten, scheint nicht von Belang zu sein. Wenn von Emotionen die Rede ist, wie im Buch „Die konstruktive bewusste Kontrolle der individuellen Menschen“, dann spielen übermässig erregte Angstreflexe und unkontrollierte Emotionen die Rolle der Störenfriede im Zweigespann von Denken und Körper.

 

In seiner Darstellung der Entwicklung der Technik, beschreibt Alexander wie allein schon der Gedanke an das Sprechen auf der Bühne muskuläre Anspannungen in seinem ganzen Körper verursachte. Dass Emotionen dabei eine Rolle spielen könnten, erwähnt er in seinem Text nicht. Er ist damit ein typischer Mensch seiner Zeit. Über Gefühle spricht man nicht, man hat sie unter Kontrolle. Dabei haben Emotionen in unserer Verhaltenssteuerung ja äusserst wichtige und konstruktive Funktionen. Sie warnen uns vor Gefahren, helfen schwierige Lebenssituationen zu verarbeiten, mobilisieren Energie oder motivieren uns durch Freude und Lustgefühle. Mit den Theorien von James, sowie von Canon und Bard hätten sich die Emotionen bereits zu Alexanders Lebzeiten als konstruktives Element in das Zweigespann von Körper und Geist integrieren lassen.

 

 

 

Nach heutigem Wissenstand entstehen Emotionen im limbischen System, dem emotionalen Erfahrungsgedächtnis unseres Gehirns. Es bewertet aktuelle Situationen aufgrund der bisher gemachen Lebenserfahrungen und ist fähig sehr schnell zu entscheiden (z.B. Schlange auf dem Weg), aber auch länger dauernde Entscheidungsprozesse zu beeinflussen (Bauchgefühl). Die bewusste Wahrnehmung dieser emotionalen Bewertungen erfolgt durch die Wahrnehmung der durch das limbische System ausgelösten Körperreaktionen. Wir tun gut daran nicht nur rationale Überlegungen, sondern auch diese „Körpersignale“ in unsere Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. Wir bleiben so in Verbindung mit jenen Anteilen unseres Wesens (Wesenskern), welche unserem Bewusstsein nicht so einfach zugänglich, für ein Gelingen des Lebens (der Selbstentfaltung) aber von entscheidender Bedeutung sind. Ein so gestalteter konstruktiver Umgang mit Emotionen verbindet Körper und Geist, Gefühl und Verstand zu einer – psycho-physischen Einheit.

 

 

 

 

 

Und jetzt?

 

Auch wenn Alexander den philosophischen Hintergrund seiner Methode nicht thematisiert hat, ja sich sogar bewusst geweigert hat dies zu tun, lässt sich aus seinen Texten doch eine Philosophie der Alexander-Technik herauslesen. Die Beschäftigung mit diesem Thema führt nicht zu einem einfachen und kohärenten System. Aber sie gibt Denkanstösse, wie sich die Theorie und mit ihr die Praxis weiterentwickeln liesse.

 

 

 

 

 

 

 

Literatur:

 

Alexander F.M. (2000). Die universelle Konstante im Leben (uKiL). Freiburg: Karger

 

Alexander F.M. (2001). Der Gebrauch des Selbst. Freiburg: Karger

 

Alexander F.M. (2006). Die konstruktive bewusste Kontrolle des individuellen Menschen. Freiburg: Karger

 

Bloch Michael. (2004) The Life of Frederick Matthias Alexander. Founder of the Alexander Technique. London: Little, Brown

 

Bolhaar Ralf, Petzold HilarionG. Leibtheorien und „Informierter Leib“ – ein „komplexer Leibbegriff“ in: Supervision 04/2008. Düsseldorf/Hückeswagen: Petzold+Sieper

 

LeDoux Joseph (2006). Das Netz der Persönlichkeit. München: dtv

 

 

 

 

 

Frühere Artikel zu philosophischen Alexander-Technik-Themen www.tamt.ch/Publikationen:

 

  • Maschine – Messinstrument – Evolution. Denkmodelle F.M. Alexanders in Diskussion (2014)

 

  • Alexander-Technik für Menschen von heute (2009)

 

        Teil 1: Darwin und Alexander / Mensch und Natur

 

        Teil 2: Von der Maschine zum Computer

 

        Teil 3: Das neuronale Netzwerk als neue Analogie

 

  • Das emotionale System nutzen (2008)

  • Die Rolle der Emotionen im Wahrnehmungsprozess (2007)

  • Willensfreiheit – eine Illusion? (2006)

  • Sinneswahrnehmung (2006)

 

 

 

Ich freue mich auf Reaktionen zum Text an: info@tamt.ch

 

 

 

Autor:

 

Adrian Mühlebach

 

Studierte Theologie und Philosophie

 

Alexander-Technik-Diplom seit 1994

 

Co-Leiter des Ausbildungszentrums für Alexander-Technik in Zürich

 

Autor des Buches „Vom Autopiloten zur Selbststeuerung.  Alexander-Technik in Theorie und Praxis“

 

 

 



[1] uKiL S. XXVI

[2] Margaret Naumburg (1890 –1983), amerikanische Psychologin, Pädagogin, Künstlerin

[3] Bloch, S. 110

[4] uKiL S. XXVII

[5] Bloch, S. 142

[6] Psychologische Fragestellungen waren bis anhin Teil der Philosophie.

[7] Die wichtigsten Vertreter des deutschen Idealismus waren Kant und Hegel. Als zeitliche Rahmendaten dieser Epoche gelten das Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) und der Tod Hegels (1831). Weitere Vertreter waren Fichte und Schelling.

[8] Eine auch für die Alexander-Technik sehr interessante Konzeption zum Verhältnis von Körper und Geist ist Hilarion Petzolds Leibtheorie. Nachzulesen z.B. unter: http://www.fpi-publikation.de

 

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